Rechtsanwalt in Hannover feiert Jubiläum

Der Beweiswert ausländischer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen

Die Frage, wann eine im Ausland ausgestellte Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung als ausreichend gilt und wie weit der Arbeitgeber diesen Beweiswert erschüttern kann, ist ein Klassiker im Arbeitsrecht – und regelmäßig Gegenstand arbeitsgerichtlicher Streitigkeiten

Mit seiner aktuellen Entscheidung hat das Bundesarbeitsgericht (BAG) nun wesentliche Grundsätze zur Bewertung solcher Bescheinigungen und zur Darlegungs- und Beweislast im Entgeltfortzahlungsprozess klargestellt. Der Fall ist gerade für Arbeitnehmer und Arbeitgeber mit Bezug zu Auslandserkrankungen von hoher praktischer Bedeutung.

Der Fall: Urlaub in Tunesien, lange Krankschreibung und Rückreise per Fähre

Ein seit vielen Jahren beschäftigter Lagermitarbeiter nahm im Sommer 2022 Urlaub in Tunesien. Kurz vor Urlaubsende meldete er sich dort per E-Mail bei seinem Arbeitgeber krank und legte ein französischsprachiges ärztliches Attest aus Tunesien vor. Dem Attest zufolge sollte er wegen schwerer Rückenschmerzen strikte Bettruhe halten und bis zum Monatsende (insgesamt 24 Tage) weder reisen noch sich bewegen.

Die Besonderheit: Schon einen Tag nach dem Arztbesuch buchte der Arbeitnehmer ein Fährticket für den 29. September 2022, reiste damit – entgegen der ärztlichen Empfehlung – noch vor Ablauf der Krankschreibung nach Deutschland zurück und legte nach seiner Rückkehr eine weitere deutsche Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung vor.

Der Arbeitgeber kürzte daraufhin das Gehalt für den Krankheitszeitraum und verweigerte die Entgeltfortzahlung. Die Vorinstanzen bewerteten das Attest unterschiedlich – das Landesarbeitsgericht sprach dem Arbeitnehmer noch den vollen Entgeltfortzahlungsanspruch zu. Der Arbeitgeber zog vor das BAG.

Die Entscheidung des BAG: Beweiswert – ja, aber…

Das BAG hob die Entscheidung des LAG München auf und gab dem Arbeitgeber Recht – zumindest vorläufig. Der Senat stellte klar:

  • Auch eine im Nicht-EU-Ausland (hier: Tunesien) ausgestellte Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung hat grundsätzlich denselben Beweiswert wie ein inländisches Attest – sofern aus ihr hervorgeht, dass der Arzt zwischen bloßer Erkrankung und arbeitsrechtlicher Arbeitsunfähigkeit im deutschen Sinne differenziert hat.
  • Allerdings kann der Arbeitgeber den Beweiswert durch konkrete Umstände erschüttern. Dann muss der Arbeitnehmer die tatsächliche Arbeitsunfähigkeit und deren Auswirkungen im Detail darlegen und ggf. beweisen.

Im konkreten Fall hielt das BAG die Zweifel des Arbeitgebers für berechtigt, da mehrere auffällige Umstände zusammenkamen:

  • Dauer und Inhalt der Krankschreibung: Die Krankschreibung erstreckte sich über 24 Tage mit striktem Reiseverbot, ohne medizinische Erläuterung für die außergewöhnliche Dauer oder Verhaltensanordnung.
  • Rückreise entgegen ärztlicher Empfehlung: Der Arbeitnehmer trat die lange und beschwerliche Rückreise aus Tunesien nach Deutschland noch vor Ablauf der Krankschreibung an – trotz der angeblich schweren Beschwerden und des expliziten Reiseverbots.
  • Vorgeschichte: In der Vergangenheit war der Arbeitnehmer mehrfach direkt nach dem Urlaub arbeitsunfähig gemeldet, was für eine auffällige Häufung von Urlaubs-Krankmeldungen spricht.

Das BAG betont, dass es nicht auf jedes einzelne Indiz isoliert ankommt, sondern auf die Gesamtschau der Umstände. Selbst wenn jedes einzelne Argument für sich nicht zwingend wäre, können die ungewöhnliche Häufung und Kombination Zweifel am Beweiswert der ausländischen Bescheinigung rechtfertigen.

Was folgt daraus für die Praxis?

  • Für Arbeitnehmer: Wer im Ausland krank wird, sollte sicherstellen, dass das ausländische Attest klar zwischen Krankheit und Arbeitsunfähigkeit unterscheidet und möglichst konkrete Angaben zu Art, Dauer und Auswirkungen der Erkrankung enthält. Wer trotz Attest gegen die ärztlichen Vorgaben (z. B. Reiseverbot) verstößt, muss mit erheblichen Nachweisschwierigkeiten rechnen.
  • Für Arbeitgeber: Bei auffälligen oder widersprüchlichen Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen aus dem Ausland lohnt es sich, den Beweiswert substantiiert zu bestreiten. Schon mehrere „Zufälle“ im Zusammenhang mit Urlaubs-Krankschreibungen können ausreichend sein, um ernsthafte Zweifel an der Arbeitsunfähigkeit zu begründen.
  • Für Gerichte: Sie sind verpflichtet, die gesamten Umstände des Einzelfalls zu würdigen und nicht jedes Indiz isoliert zu betrachten. Die Darlegungslast des Arbeitnehmers lebt wieder auf, sobald der Beweiswert erschüttert ist.

Das BAG hat mit diesem Urteil wichtige Klarstellungen zum Umgang mit ausländischen Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen geschaffen und die Hürden für den Nachweis einer ernsthaften Erkrankung im Ausland präzisiert. Entscheidend bleibt: Wer Arbeitsunfähigkeit im Ausland geltend machen will, muss nicht nur formal, sondern auch inhaltlich überzeugend und nachvollziehbar dokumentieren – und sollte besonders bei langen Krankschreibungen im Urlaub auf eine lückenlose und widerspruchsfreie Dokumentation achten.

Sie haben Fragen zur Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall, zu Krankschreibungen aus dem Ausland oder möchten sich gegen zweifelhafte Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen absichern? Als Fachkanzlei für Arbeitsrecht stehen wir Ihnen mit Rat und Tat zur Seite. Kontaktieren Sie uns gern für eine individuelle Beratung.

______________________________


Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 15.01.2025, Az. 5 AZR 284/24

Hinweis: Die Darstellung ersetzt keine individuelle Rechtsberatung im Einzelfall.

Bild von Rechtsanwalt Cihan Kati im Anzug
Noch Fragen?
Schreiben Sie mir über die E-Mail oder vereinbaren Sie direkt ein Termin.
Termin vereinbaren
Termin vereinbaren